70 aus 2007 Teil 12

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Platz 5
LCD Soundsystem - Sound Of Silver

Eine ganze Weile schien es als würde ich mit meinem Vorurteil Recht behalten. DFA: Mixe oho, Alben OK aber nicht auf ganzer Länge. So war auch Sound Of Silver zunächst zwar sehr nett, sicher besser als das erste Album, überragend aber nicht. Die potentiellen Singles standen fest, man gewöhnte sich auch an die Stimme und das anfangs etwas nervige North American Scum. Und es wurde ein Album zum nebenher hören, flotte Lesebegleitung. Und dann traf es mich irgendwann. Das flott aufspielende Time To Get Away setzte so viel grooviger ein, die Percussions klangen so klar, so richtig, man musste einfach mitwippen, wenn niemand in der Nähe war an einem Schlagzeug aus Luft mitspielen. Und dieser "Hoo-hoo-hoo"-Gesang... super!

Dann kamen die Texte. Erst war es der Witz des Heimatliebe tatsächlich einmal sympathisch machenden North American Scum, dann die sehr erwachsenen Emotionen von Someone Great und All My Friends, beide zwar nicht mit meiner Lebenserfahrung nachvollziehbar aber doch verständlich und hart treffend. Makes you want to feel like a teenager - until you remember the feelings of a real life emotional teenager. Then you think again. Us V Them over and over again, und so weiter. Ein Anzeichen dafür dass da jemand mit Musik etwas transportieren kann. Und was für Musik, rhythmisch aber nicht nur zum Tanzen gut, denkwürdig melodisch, komplex aber weder angestrengt noch überladen, exzellent produziert dass man jede Einzelheit und Feinheit genau heraushören kann. Ein echtes Überalbum, und der Beweis dass in jedem Vorurteil ein Körnchen völliger Blödsinn steckt.

[Video] LCD Soundsystem - North American Scum

Platz 4
The Fiery Furnaces - Widow City

Auch wenn The Fiery Furnaces mit jedem Album aufs Neue zu betonen scheinen wie unerreichbar groß Blueberry Boat war, Widow City kommt so nah an ihr Meisterwerk ran wie bisher nichts anderes. Ich hatte ja bis vor wenigen Tagen noch nicht geglaubt dass ich diese Platte am Ende so weit oben hier vorfinden würde, selbst als ich dachte ich hätte sie endlich ganz aufgenommen, wie immer diesen Moment erreicht ab dem das Gehörte nicht mehr hinterfragt und analysiert wird sondern einfach nur noch wunderbar wirkt. Schon mit Bitter Tea schien das schneller zu gehen, vertraut klangen die Rückwärtssequenzen und verschrobenen Hickhackpassagen da bereits beim ersten Mal. Doch ich hatte so schnell nur die erste Hälfte von Widow City verdaut, die lautere Seite mit den Singles drauf, den eingängigen Charthits wie Duplexes Of The Dead, Ex-Guru und Japanese Slippers.

Doch mehr und mehr offenbarte, besonders nach Feierabend, die subtilere zweite Seite ihre Qualitäten. Mit der zarten Melodie im Hintergrund von Pricked In The Heart, dem einem langen Ausatmen gleichenden Restorative Beer oder dem unsagbar schönen Widow City, alles Vehikel um Eleanor Friedbergers phänomenale Stimme auf weitere Reisen über die Tonskala zu schicken als bisher. Gibt es eine Stimme die "Desert winds are strong but they're not strong enough, love of my life" schöner singen könnte? Daneben kommt die größte musikalische Neuerung hier in den Zwischenpassagen, ist dies doch die rockigste Furnaces-Platte, mit röhrendem Bass und knackigen Drums wie auf dem furiosen Uncle Charlie. Doch im Herzen der Songs stehen wie eh und je die großen Melodien, hier hörerfreundlich leichter fassbar gemacht indem sich mal dem Drang verweigert wurde mehrere Teilsongs in einen einzigen großen zu packen (Tracks 2-4 gehören klar zusammen).
Das (teils) übergreifende Thema und die Stimmung des Albums erinnern sehr an Abenteuerromane der letzten Jahrhundertwende, mit Ägyptenreisen, dem Eisenbahnsample in Japanese Slippers und dem Conan Doyle'schen Titel von Cabaret Of The Seven Devils; ein bisschen Film- und Hörspieldramatik ist auch dabei wenn bestimmte Sounds Ereignisse akzentuieren (z.B. die ambienten Drums in der Büchereiszene oder die wieder aufspielende Musik als "An emergency cigarette behind glass" gesichtet wird).

Aber auf die Texte versuch ich gar nicht groß einzugehen, sonst wird hier nachher noch so was draus. Fazit bleibt: The Fiery Furnaces spielen immer noch in einer ganz eigenen Liga, haben aber das Niveau wieder ordentlich angehoben und sind dazu noch etwas leichter zugänglich geworden. Aber auch nur etwas.

[MP3] The Fiery Furnaces - Ex-Guru

Platz 3
Studio - West Coast

Ich hab's mal versucht, aber mit einer Liste von Songs des Jahres wird das bei mir einfach nichts, zu viel wurde gehört an zu vielen verschiedenen Orten um es irgendwie nachzuvollziehen. Wenn ich denn auch nicht mit ganzen Songs dienen kann, so immerhin mit Momenten. Da vertraue ich meinem Gedächtnis, und ganz klar der musikalische Glücksmoment Nr. 1 in diesem Jahr, vor der Hohen Note von St. Vincent und Lavender Diamond, dem letzten Refraineinsatz beim Apistat Commander-Cover, den von "Come on"s eingeleiteten Variationen in XR2, ganz oben auf der Liste steht der Moment bei 14 Minuten und 40 Sekunden in Out There auf Studios Debütalbum. Viel ist bis dahin bereits passiert, weggefallen und hinzugekommen und varriiert worden, doch in diesem Moment verzahnen sich alle Percussions, alle pfeifenden, glitzernden Synths, noch einmal ineinander um ein letztes Mal diese eine Melodie so groß aufzuführen wie nie zuvor. Wenn das der Klang des schwedischen Strandurlaubs sein sollte weiß ich schon was ich mit meinem nächsten Sommer anfange. [mehr]

[MP3] Studio - Life's A Beach!

Platz 2
Sunset Rubdown - Random Spirit Lover

Drei Jahre hintereinander auf Platz 2. Es ist offensichtlich dass ich die Musik des Mannes mag. Anders als man es vor einem Jahr vielleicht erwartet hätte brachte Spencer Krug jedoch 2007 nicht das zweite Album mit Wolf Parade heraus sondern das dritte seiner anderen (oder eher einen) Band. Auf Random Spirit Lover ist diese auch wirklich zur Band zusammengewachsen wo man vorher den Eindruck hatte sie wäre bloß Vehikel um Krugs Kompositionen in Musik umzusetzen, allein im eröffnenden The Mending Of The Gown spielen Sunset Rubdown so ungewohnt druckvoll, richtig rockig, zusammen dass es genau so gut eine ganz neue Band sein könnte. Die Gitarre rückt nach vorne, die sonst so dominanten Synths spielen mehr eine Nebenrolle und das Schlagzeug galloppiert munter voran. Besonders gut harmoniert hier die Stimme von Camilla Wynne Ingr mit der Krugs, sie hat ebenfalls ein bisschen diesen seltsamen Klang als ob zwei Menschen gleichzeitig singen würden. Der eintretende Effekt wenn diese Stimmen im Duett verschmelzen ist dann erst recht bemerkenswert.

Auch das Songwriting hat sich deutlich weiterentwickelt. Textlich geht es wie immer sehr phantastisch zu, Krugs Geschichten werden von Fabelwesen bevölkert wie den auf Albumcover und -Rückseite abgebildeten Gestalten der Zauberin und des Krampus, auch Schlangen und Pferde finden sich natürlich zuhauf dort. Aber nachdem das Album mit einem sinkenden Schiff beginnt und Up On Your Leopard, Upon The End Of Your Feral Days das Älter werden in Märchenform verpackt wirft das wie ein Kinderreim beginnende The Courtesan Has Sung einen Blick hinter eine Theaterbühne, vielleicht die auf der diese Geschichten aufgeführt werden? Diese Dualität von erzählten Geschichten und Schauspielern in der Realität zieht sich durchs ganze Album, zwischendurch geht es auch immer wieder um Beziehungen und um den Glauben an Übernatürliches (der in Magic Vs Midas und in der amüsanten Reflektion Winged/Wicked Things mit dem Glauben an die Liebe verglichen wird).

Mit der textlichen geht eine noch weitaus größere musikalische Erweiterung einher. Krugs Stücke sind selten normale Strophe/Refrain/Strophe-Konstrukte, sie nehmen lieber eine abenteuerliche und wundersame Wendung nach der nächsten, schreiten immer fort. Oft erheben sie sich dabei in herrliche Höhen, doch Random Spirit Lover hat auch eine dunkle Seite. Mit Colt Stands Up, Grows Horns nimmt das Album eine unerwartete Wendung in Goblin-Territorium, psychotische Synths erwecken die Paranoia eines Argento-Soundtracks. Das pianodominierte Stallion scheint erst Licht ins Dunkel zu bringen, fixiert sich jedoch so dass es nur im "Youuuuu" hängenbleibt. Und gerade als man denkt Sunset Rubdown würden nie mehr zu der lockeren Beschwingtheit von They Took A Vote And Said No zurückfinden leitet sanftes Saitenkratzen das grandiose For The Pier (And Dead Shimmering) ein das genau so eine bewegende Nummer ist wie man sie von Krug erwarten würde ("It's infinity's tiiiime to shine out here": Gänsehaut pur), nur noch höhere Höhen erklimmt wegen des Tals in dem sich der Hörer davor befand.

Das ist kein Zufall. Random Spirit Lover ist ein wirkliches Album das als Ganzes gehört werden soll, nein, muss in manchen Fällen! Ein einziger dramatischer Faden zieht sich durch die Stücke, meistens gehen sie auch direkt ineinander über oder überschneiden sich gar. Doch trotz großer Ambition bleibt der Spaß nicht auf der Strecke, vielmehr ist das Album voller Verspieltheit, einem enthusiastisch eingerufenen "Shake!" hier, einem klassischen Pianomotiv da, ekletischen Versatzstücken zuhauf. Und natürlich voller denkwürdiger Melodien und aus den scheinbar undurchdringlichen Texten herausstehender Momente bezaubernder Klarheit. Ein Album das mehr hergibt als andere.

[MP3] Sunset Rubdown - Winged/Wicked Things

Platz 1
Jay Reatard - Blood Visions

Tjaa... Anfang des Jahres, nach anfänglicher Begeisterung über dieses verspätete Weihnachtsgeschenk aus Übersee, hatte ich ja geschrieben dass ich das hier zu den besten des letzten Jahres zählen möchte. Aber wie ich sehe ist Blood Visions angeblich diesseits des Atlantiks (wenn überhaut) erst 2007 erschienen und muss damit hier an der Spitze thronen. Denn es ist das Album das mich am meisten von allen, nicht nur weil es von Anfang an dabei war, durchs ganze Jahr begleitet hat, das der Soundtrack zu guten Zeiten war und auch mal einen weniger guten Moment in einem Blutbad aus Punk und Pop hinwegfegte. Ein Album das von vorne bis hinten völlig mitreißt mit catchigen Melodien, bitterbösen Texten und Punk aus der Garage nebenan. Das trotz vertrautem, altem Klang keine Retro-Aufkocherei eines einzigen Sounds ist, in dem höchst eigenen Klanggebräu findet sich auch wieder was nach, vor und neben Punk kam: Pixies-Geshredder mit Gitarre und Stimme, Surfrock, Glam und New Wave, düster psychedelische Einlagen aus Hall und sägender Verzerrung. Und das alles in unter 30 Minuten. Kurz, schmerzvoll, genial. [mehr]

[MP3] Jay Reatard - Fading All Away