70 aus 2007 Teil 10

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Platz 16
Glass Candy - B/E/A/T/B/O/X

Im Inneren der CD-Hülle, außen umrahmt von bunten Porträts des Duos in Glamourkleidung, ist ein Paar blauer Kopfhörer abgebildet. Als wollten Glass Candy mitteilen "Hey Leute, ihr könnt zu unseren Sachen nicht nur tanzen, ihr könnt die auch in Ruhe zu Hause genießen." Denn wie schon oft erwähnt, Johnny Jewel hat bei seinen Produktionen ein hervorragendes Ohr für Detail als auch Gesamtästhetik. Zwar ist B/E/A/T/B/O/X offiziell nur eine Tour-CD, aber die steckt so voller Hits die auch hervorragend sequenziert sind dass sie locker die meisten Albumveröffentlichungen in die Tasche steckt. Ein Knistern liegt über manchen Stücken, als würde man eine Aufnahme einer Vinylwiedergabe anhören, doch es ist schwer vorzustellen dass ausgerechnet diese Töne nicht beabsichtigt sind. Jewel investierte nämlich neue Arbeit in zwei Stücke die sich bereits auf After Dark anfanden: Rolling Down The Hills kommt hier aufgefrischt, beschwingt und schneller daher während Computer Love, das einzige Cover unter lauter GC-Originalen, fast genau so überarbeitet wurde wie ich es mir vor einiger Zeit mal gewünscht hatte und mit wuchtigeren Drums die mehr an die Liveversion herankommen versehen wurde.

Doch überwiegend wirkt die Produktion sehr weich, selbst die perkussionsartigen Plopps in Life After Sundown sind weniger wie Trommeln denn Seifenblasen die von Ida No mit einem Schrei in der Luft zerrissen werden. Überhaupt zeigt sich die Stimme der Sängerin wandlungsfähig wie man es nach den früheren No-Wave-Stücken auch erwarten würde, mit fester Stimme duelliert sie sich in Beatific mit knarzigen Synths während sie in Candy Castle so glamourös angehaucht kommt dass man sie vorm inneren Auge im einen rosa Cadillac durch Miami fahren sehen kann. Der Knüller ist aber ihre Vorstellung im Intro, dort gibt sie den Esoterik/Selbsthilfeguru und verrät zumindest die Antwort auf die Frage nach dem Leben und dem ganzen Rest:

"What do we say when we want to get in touch with our everlasting souls?" - "Hit it, DJ!"

[MP3] Glass Candy - Candy Castle

Platz 15
St. Vincent - Marry Me

Marry Me ist kein perfektes Album. Es will nicht so ganz zusammenhalten, ist lose, ambitioniert und schwer fassbar. Eigentlich sollte St. Vincents Debüt so ein Album sein das am Ende des Jahres nur noch eines unter vielen anderen sehr guten aber nicht überragenden ist, von dem einem immer wieder Songfragmente in den Sinn kommen ohne dass man ihre Herkunft identifizieren kann. Und doch weiß ich sofort dass dieses lang angehaltene "I see you" mit Disney-Orchester im Hintergrund von What Me Worry stammt, dieses "Bah bah bah bah"s und der seltsame Froschgesang auf Jesus Saves zu finden sind. Annie Clarks Kompositionen sind einfach schwer zu vergessen, ambitioniert aber auch spielerisch, und ach wie mühelos lässt sie es erscheinen gleich mehrere Songs in einen zu packen. Vielleicht sind manche Diamanten besser wenn ungeschliffen.

[MP3] St. Vincent - Now Now

Platz 14
Lucky Soul - The Great Unwanted

Vermutlich haben es die meisten auch schon von Günther Jauch erfahren, der Sommer dieses Jahr war ziemlich scheiße. Vom Wetter her, aber auch gab es musikalisch wenig was so richtig in die Jahreszeit gepasst hätte, die meisten Sachen kamen erst als die vereinzelten Sonnentage sich schon in den Winterurlaub verabschiedet hatten. Aber Lucky Soul haben mir die Saison dann doch noch gerettet, The Great Unwanted war so gut dass es den halben Frühling und ganzen Sommer lang Freude spendete. Mit großen Emotionen und großen Popsongs, ein großes Album. Und doch nicht aufdringlich, mehr so ein Album das man gern so lang die Sonne scheint umarmen würde. "One kiss don't make a summer" - dieses Album schon. [mehr]

[Video] Lucky Soul - Lips Are Unhappy

Platz 13
Frog Eyes - Tears Of The Valedictorian

Der wilde Mann Kanadas ist auch auf Frog Eyes' viertem Album nicht zu bändigen. Das ist auch gut so, gegen die angriffsgleichen Schwälle die seine Mitspieler entfesseln käme Carey Mercer sonst auch kaum an. Mit seinem manisch predigenden Gesang erweitern und verfeinern Frog Eyes ihre freakigen Folkwelt, bündeln ihre Kräfte gezielt oder lassen ihren Melodien auch mehr Freiraum um sich zu entfalten. Das macht sie sicher für den einen oder anderen zugänglicher, doch Zugänglichkeit geht nicht auf Kosten musikalischer Ambitionen, zum Beweis braucht man nur das absolut grandiose Bushels zu hören. [mehr]

[MP3] Frog Eyes - Bushels

Platz 12
65daysofstatic - The Destruction Of Small Ideas

Eine der schönsten "Geschichten" in diesem Jahr war für mich das Interview mit 65daysofstatic auf Stylus. Dabei erzählten sie, nachdem sich der von ihrem Album enorm angetane Interviewer besonders über dessen Klang positiv geäußert hatte, dass sie ein kritischer Artikel über schlechter werdende Produktion dazu bewogen hatte ihr drittes Album so gut klingend wie möglich zu machen, und es stellte sich heraus dass der Interviewer derjenige war der genau jenen Artikel verfasst hatte. Auch ohne diesen Hintergrund wäre es mir kaum möglich über The Destruction Of Small Ideas zu reden ohne den hervorragenden Klang zu erwähnen, denn ohne den würden die Kompositionen darauf längst nicht so hörenswert.

Es ist ein leises Album, gegen den dumpfen lauter-um-jeden-Preis-Zeitgeist, das man lauter drehen muss um seine Tiefe und all seine Details wahrzunehmen. Wo 65daysofstatic bei aller aufregender Vermischung von Postrock, Mathrock und Elektronik früher oft etwas stumpf und dumpf wirkten haben sie den Sinn für Feinheiten entdeckt. Es gibt nicht nur laute und leise Instrumente sondern feinste Abstufungen, an- und abschwillende Pianos die sich langsam und dramatisch in den Vordergrund tasten (White Peak / Dark Peak sollte Trail Of Dead vor Scham rot anlaufen lassen), Gitarren deren Verortung klar auszumachen ist und die sich nur bei Bedarf überschneiden, und einen achtarmigen Drummer der wie alle hier im Gegensatz zur Liveshow dezent zurücktritt um den Gesamtklang in der Balance zu halten. Denn das ist es was sich bei all der Geschwindigkeit und den Berg- und Talfahrten dieses Albums beim Hören letztendlich einstellt, ein gewisses, fast meditatives Gefühl von Entspannung. Vorausgesetzt man kann mit dem Lautstärkeregler umdrehen.

[MP3] 65daysofstatic - Don't Go Down To Sorrow

Platz 11
Marnie Stern - In Advance Of The Broken Arm

Wie aus dem Nichts trat Marnie Stern dieses Jahr in die Musikwelt. Nun, nicht wirklich aus dem Nichts, ihre Gitarrenvirtuosität hat sie mit langer Überei im Schlafzimmer erlernt. Ihr erstes Album jedenfalls ist direkt etwas ganz Besonderes geworden, ansteckend fröhlicher Hyperrock auf 6 Saiten mit bestechenden Melodien und nimmermüder Fingerklopperei die keine Mucker-Angeberei sondern integraler Bestandteil der Musik ist. Dass dazu ein hyperaktiver Zach Hill wie das Tier aus der Muppet Show im Hintergrund abgeht fällt dabei kaum auf, das hier ist die große Marnie Stern Show. [mehr]

[MP3] Marnie Stern - Every Single Line Means Something