70 aus 2008 Teil 10

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Platz 7
Jay Reatard – Matador Singles 08

Dieser Text wird weitaus kürzer wenn ich einfach die weniger guten Songs auf Matador Singles 08 hervorhebe, nämlich lediglich das Deerhunter Cover Fluorescent Grey stört mit seinem psychedelischen Abdriften den Fluss einer perfekten Songsammlung die, obwohl ursprünglich in 6 einzelnen Singles erschienen, auch als Album funktioniert. Es ist als hätte Reatard eine Goldader voller poppiger, ultracatchiger Garagepopnummern entdeckt die er hier genüsslich ausmint. Die erste Hälfte geht bei aller Akustikgitarre noch in etwas punkigere Gefilde, am aufregendsten finde ich aber mittlerweile den Schlusslauf der Songs nachdem Reatard auf D.O.A. seine beste Frank-Black-Imitation raushängen lässt. No Time wendet sich melancholisch ins Introspektive (“It seems I never have the time to make my mind feel fine”) und das perfekt produzierte I'm Watching You ist einer dieser Songs den man gerne 10mal am Stück hört.

[MP3] Jay Reatard - Always Wanting More

Platz 6
Lichter – Lichter

Ein bisschen überrascht bin ich schon dass Lichter ganz so weit hier oben stehen, aber ich weiß halt erst was ich am meisten mag wenn ich mal alle Platten miteinander hörverglichen habe. Und da kam das Debüt der Band, die mich vom ersten Konzert an begeistert hat, eben noch besser weg als ich gedacht hatte. Seit den Toco-Alben um die Jahrtausendwende haben deutsche Texte nicht mehr so zu mir gesprochen wie diese, die Nähe von Persönlichen und Politischen wird nur allzu deutlich wenn Amphetamin (“Ich finde keine Ruhe mehr in dir”) hier neben Ich Bleibe Ruhig (“Diese Welt ist nicht mehr für uns reserviert. Alle Plätze belegt und nichts garantiert. Unsere guten Ideen billig und ausstaffiert und wer kann hier noch sagen wer gewinnt, wer verliert”) steht.
Musikalisch entwickeln Lichters Stücke aus vermeintlich vorhersehbaren Anfängen herliche Eigendynamik, vom Wechselspiel der Stimmen und Instrumente erzeugen sie Texturen für das Platz mit seiner Motivvariation ein Paradebeispiel ist. Was andere lediglich als Novum oder plumpe Rockgeste nutzen würden, wie den Breakbeat in Radar oder den instrumentalen Ausbruch später im selben Stück, wird hier zur denkwürdigen Klangfläche umfunktioniert. Und wem das so ausgedrückt zu kopfig klingt sei versichert dass die größte Qualität von Lichters Musik ihre Seele ist.

[MP3] Lichter - Leerer Raum

Platz 5
Los Campesinos! – Hold On Now, Youngster...

Die Sticking Fingers Into Sockets-EP war wahrlich nur ein Vorgeschmack, dieses Jahr packten die tweereichen Sieben ihre Songs in ein zunächst wunderbar überwältigendes Album, quasi als Gegenteil eines Growers, dessen Qualitäten sich erst langsam herausschälen, wurde man wenn man unvorbereitet war von der gebündelten Freude von Hold On Now, Youngster... geradezu erschlagen. Und so sehr sie sich auch für andere Bereiche des Lebens zu naiver Romantik oppositioniert zeigen (Since We Became Accelerated Readers oder noch offensichtlicher This Is How You Spell “HAHAHA, We've Destroyed The Hopes And Dreams of A Generation of Faux-Romantics” das diesen Satz großartigerweise tatsächlich als Refrain hat) strömt die Liebe zum Leben als Musikfan aus allen Ecken dieser Platte, mit Knee Deep At ATPs Erzählung einer Festivalerfahrung zu Across The Sea-Weezer-Parallelen, der Kritik an Sexismus Marke NME ...And We Exhale And Roll Our Eyes In Unison, der Durchdachtheit des Albums mit großartiger Sequenzierung (You, Me, Dancing als Zentrum und Sweet Dreams, Sweet Cheecks ist einfach die perfekte Wahl als Finale und hatte ein Dreivierteljahr vorher auch schon als Demo eines meiner Mixtapes beendet) und natürlich einem Bonustrack. Eine Band die man sich nicht besser hätte ausdenken können.

[MP3] Los Campesinos! - Death To Los Campesinos!

Platz 4
The Long Blondes – “Couples”

Zu den bedauerlichsten Vorfällen des Jahres gehörte der Schlaganfall der Dorian Cox' musikalische Aktivitäten zu einem vorläufigen Ende brachte, dabei hatten The Long Blondes gerade erst angefangen ihr volles Potential zu entfalten. Auf ”Couples” streckte die Band gleich in mehrere Richtungen ihre Fühler aus, ob mit dem PIL-mäßigen Round The Hairpin, der Todesdisco Century oder dem heimlichen Star am Ende, meinem meistgehörten Song des Jahres, I'm Going To Hell. Ausführlichere Gedanken zu dieser Platte hab ich noch mehr, viel [mehr]

[MP3] The Long Blondes - Guilt

Platz 3
Wolf Parade – At Mount Zoomer

Wenn ich nicht schon vorher davon überzeugt gewesen wäre dass At Mount Zoomer Wolf Parades Erstling in praktisch nichts nachsteht hätte das der Liveauftritt Anfang des Monats erreicht. Da schien es egal ob das nächste Stück von Kanadas bester Band nun alt oder neu war, immer schwang da dieses zauberhaft Großartige mit das den Songs innewohnt. Deutlich wurde da auch wie markant des abwesenden Hadji Bakaras unsichtbare Soundmanipulationen besonders in Kombination mit Spencer Krugs Synthwerkeln für die Musik geworden sind, Language City wurde z.B. ohne das kristallene Funkeln im Hintergrund atmosphärisch ordinärer. Der Essenz der Songs kann das jedoch nicht schaden, denn Wolf Parade bleiben weiterhin vor allem eine Rockband und auf der Basis ihrer beiden Songwriter wirken sie derzeit einfach unschlagbar.

[MP3] Wolf Parade - Language City

Platz 2
Air France – No Way Down (UK-Version)

Westküstensommer die sechste und beste. Die britische Version von No Way Down enthält neben der gleichnamigen EP auch die vorherige On Trade Winds-EP und damit schon fast das bisherige Gesamtwerk des Duos aus Göteborg. Von all der tollen Musik die derzeit aus dieser Stadt kommt ignoriert die von Air France die Gesetze der Schwerkraft am meisten, zog 2008 nichts in höhere Höhen. Ätherische Stimmen die selten singen, öfter bloß flüstern, seufzen, hauchen, schweben über oft genauso körperlos wirkenden Stücken die aber alles andere als bloßes Ambiente sind. Viel zu substantiell und catchy wirkt es wenn in Collapsing At Your Doorstep (der Nationalhymne des Landes wo Milch und Honig fließen) die Melodie beim zweiten Mal leiser angestimmt wird, auch drumherum alles leiser schlägt, nur um dann wieder mit voller Wucht und wilden Geigen durchzubrechen. Anderswo rasen die Percussions auf Caribien, plätschert Wasser an eine tropische Beach Party, läuten Kirchenglocken zur Windmill Wedding dass es sich gleichzeitig immens und völlig unbeschwert anfühlt. Dass die folgenden Lyrics bestimmt in der Hälfte aller Rezensionen dieser Platte zitiert werden beweist dass Air France auch bestens wissen was sie da geschaffen haben: “Sorta like a dream, isn't it? - No, better.”

[MP3] Air France - Collapsing At Your Doorstep

Platz 1
Gang Gang Dance – Saint Dymphna

Anders als noch 2007 kam ich mir dieses Jahr fernab vom kritischen und populären Konsens vor, interessierte mich mehr für die musikalischen Ecken die nur hier und dort mal angerissen wurden und für nur wenige der Alben die auf jeder Liste aufzutauchen schienen. So sind dann auch für mich nicht TV On The Radio die New Yorker Band der Stunde sondern Gang Gang Dance, und das nicht nur weil die ein Album hingelegt haben das so exquisit produziert ist dass man jeden Klang auf seiner eigenen Ebene kristallklar definiert raushören kann, jedes Schimmern, jeden Bass-Sound, jedes perkussive Schnappen.
Das ist nur das Mittel um das atemberaubend schöne Stilamalgam von Saint Dymphna, das sich in allen Ecken der weltweiten Musikgeschichte zu bedienen scheint, voll auszuschöpfen. In seiner Komplettheit und Frische erinnert mich der Sound gar an Disco Inferno, gleichzeitig fließt das Album abwechslungsreich wie ein Mixtape mit den Übergängen vom shoegazigen Vacuum zur Grime-Nummer Princes, die Dubstep-Sounds von Inners Pace und Afoot mit , dem Elektrotraum House Jam, das von glitzernden Synth-Wasserfällen durchzogene First Communion oder das herrlich dichte Desert Storm. Gang Gang Dance existieren mit Saint Dymphna in einem eigenen Kosmos der stets für alle äußeren Einflüsse offen ist, ein wahres Album von Welt.

[MP3] Gang Gang Dance - House Jam

laszlo2 (Gast) - 7. Jan, 18:33

das liste ist super, wie immer.
haben es die Islands nicht mal unter die ersten 70 geschafft?
klar waren die unicorns alben besser, aber ich fand es schon erstaunlich, wie breit das repetoire von der band geworden. oder nicht?^^

uliuli - 7. Jan, 18:44

Danke.

Das Islands-Album wollte bei mir leider nicht so recht zünden, immerhin hab ich dafür aber auch wieder öfters die Unicorns genossen.
Bernie (Gast) - 8. Jan, 14:49

Vielen Dank...

..für den vergnüglichen Nachmittag mit dieser Bestenliste! Eine sehr erlesene Auswahl. Auch wenn mir nicht alles gefällt (wäre ja auch schlimm, wenn!), finde ich bei Dir immer wieder richtige Perlen. Erstaunlich, was mir im Jahr 2008 so alles entgangen ist!