56 Aus 2010 (Teil 7)

(Teil 1) (Teil 2) (Teil 3) (Teil 4) (Teil 5) (Teil 6)

Platz 08
Shining - Blackjazz

Ein finsteres Biest von Album haben die Jaga-Jazzist-Spinoffs geschaffen in dieser Vereinigung von metallischer Schwere, vertrackten Strukturen und einem Industrial-Sound, dessen schwarze Lackierung eine fast schon plastikhafte Qualität annimmt. Bei aller filigranen Frickelei wird Blackjazz aber von melodisch einprägsamen Riffs angetrieben, die man auch noch wiedererkennt wenn sie Mitte des Albums unvermutet wieder auftauchen und Sänger/Faucher Jørgen Munkebys quiekiges No-Wave-Saxophon sorgt für soviel Chaos, dass ihr infernales 21st Century Schizoid Man ein völlig schlüssiges Finale abgibt.

[MP3] Shining - The Madness And The Damage Done
[Stream] Shining - Blackjazz

Platz 07
The Chemical Brothers - Further

Der Synthesizer-Arm des Krautrock war dieses Jahr so omnipräsent im Experimentalbereich wie Suet Lam in Johnnie-To-Filmen, aber erst richtig spät habe ich etwas überrascht gemerkt, dass auch das neue Album der Chemical Brothers auf dieser Wellenlänge liegt. Dies jedoch in herrlichem Großformat, mit schwärmerischen Flügen durch kosmische Nebelschwaden, dem epischen Dronehopser Escape Velocity oder dem genüsslich taumelnden Swoon modernisieren die Chemicals, was viele andere gerade erst für sich entdecken.

[MP3] The Chemical Brothers - Escape Velocity
[Stream] The Chemical Brothers - Further

Platz 06
Wolf Parade - EXPO 86 / Semi Precious Stone

Zu viele Songs für ein Album hatten Wolf Parade dieses Jahr, zumindest um sie sinnvoll alle nebeneinander unterzubringen. Allemal mithalten können die beiden Stücke der Doppelsingle mit EXPO 86, das die Rollenverteilung Krug als mystisch-träumerischer Raconteur / Boeckner als bodenständig-rauer Globetrotter überraschend durchwürfelt mit Krug als Stadt-alieniertem in Oh You, Old Thing und Boeckner in ungewöhnlicher Erzählposition im, musikalisch dennoch Pop-geradlinigen, Yulia, über die hinaus sich die beiden auch thematisch die Bälle zuspielen. Ah ja, und Konzert des Jahres. [mehr]

[MP3] Wolf Parade - What Did My Lover Say? (It Always Had To Go This Way)
[Video] Wolf Parade - Yulia
[Stream] Wolf Parade - EXPO 86

Platz 05
The Hundred In The Hands - The Hundred In The Hands / This Desert EP

2010 war das Jahr der Partysongs über Parties im Pop, aber The Hundred In The Hands erinnerten auf ihrem Debüt daran, dass Tanzmusik mehr behandeln kann. Ihr Debütalbum war das kunstvolle Disco-Pop-Porträt einer Jugend zwischen Ziellosigkeit unter und Gefühlsverwirrung am durchtanzten Ende der Woche, das besonders durch die vielen Feinheiten in Eleanor Everdells Vocals Faszination erwirkte. Nicht wenig toller waren die vorher auf ihrer EP versammelten Songs, voller bezaubernd funkelnder Melancholie, komplexer Rhythmen zu minimalistischen Melodien und anderer in Harmonie endender Reibungen. [mehr]

[MP3] The Hundred In The Hands - Dressed In Dresden
[Stream] The Hundred In The Hands - This Desert
[Stream] The Hundred In The Hands - The Hundred In The Hands

Platz 04
Los Campesinos! - Romance Is Boring

So ein Album, dessen Größe mir irgendwie ständig entfällt - bis ich es wieder höre. Los Campesinos! haben die Tweexcore-Tweenjahre hinter sich, Gareth kotzt sein Herz aus wie Jamie Stewart, Gesänge wie Gitarren werden bis zum Gellen verzerrt und in Schall und Rauschen getaucht. Im Textzentrum der von alter Geradlinigkeit bis zu drei verschiedenen Taktarten in einem reichenden Songs steht eine fragmentierte Tragödie, deren (nicht unbedingt chronologischer) Schluss mich jedes Mal kriegt wie keine andere Zeile dieses Jahr: "I can't believe I chose the mountains every time you chose the sea" [mehr]

[MP3] Los Campesinos! - Romance Is Boring
[Stream] Los Campesinos! - Romance Is Boring

Platz 03
Javiera Mena - Mena

Bisher scheint der einzige Ort, wo man das Popalbum des Jahres in physischer Form kaufen kann, ein Plattenladen in Santiago zu sein. Durch das Internet jedoch ist das zweite Album der genialen Chilenin nahezu überall (legal) digital erhältlich, ein Symbol dafür, was für ein globales Werk es ist dessen US/Euro-Disco-Pop mit Beiträgen von Kelley Polar, Ladytrons Daniel Hunt und Jens Lekman (im fabelhaften Duett Sufrir, das mit No Te Cuesta Nada und der absoluten Übernummer Luz De Piedra De Luna die beste Dreiersequenz 2010 bildet) entstand. Vor allem ist auf Produktionsseite aber die feine Trennarbeit Cristian Heynes hervorzuheben, der hier alle zum Schmachten schönen Elemente so feinhühlig platziert (wie hier auch überhaupt jeder Song essentiell und ideal an seiner jeweiligen Stelle ist) dass Menas warme Stimme den Raum und Ramen hat, um sich als die menschliche Alternative zu all den Fembots im Pop zu etablieren.

[MP3] Javiera Mena - Hasta La Verdad
[MP3] Javiera Mena - Luz De Piedra De Luna

Platz 02
These New Puritans - Hidden

Zwischen Witch House und Billig-Goths mangelte es diesem Jahr wirklich nicht an wie auch immer düsterer Musik. Aber nur eine Band hatte in all der oft nur kitschigen Schwärze einen Entwurf, der sich in seiner orchestralen Pracht wirklich gesamtvisionär anfühlte und mit Ambition und Ideenreichtum das Jahr bis zum Ende als Highlight überdauerte. Mit ihrem zweiten Album erfüllten These New Puritans ein Potential, das ihr Debüt nur hatte erahnen lassen und riefen mit Säbelrasseln zu Krieg, mit Pauken zum Tanz und Lovecraftigen Gesängen zu schamanischer Beschwörung alter Naturkräfte auf dass ein Herr Mark E. Smith sich glatt kopiert fühlte. Ein hasserfüllteres Kompliment kann man sich kaum wünschen. [mehr]

[MP3] These New Puritans - Orion
[Stream] These New Puritans - Hidden

Platz 01
Titus Andronicus - The Monitor

Tja also, The Monitor.. Album des Jahres, wahrscheinlich, oder? Wie dort das Suburb-Kind Patrick Stickles die Geschichte seines versuchten Ausbruchs aus dem großen amerikanischen Albtraum darlegt, Beziehungsdebakel und Gesellschaftsmalaise mit den spätnachts im Fernsehdelirium absorbierten US-Bürgerkriegsdokus zu einer wahrhaft epischen Geschichte hochstilisiert. Wie Titus Andronicus in The Battle Of Hampton Roads die letzte Schlacht fechten, textlich und musikalisch, unser Erzähler sich in der Katharsis des Pogues-treffen-Replacements-treffen-Springsteen-Punks seinen ganzen Abscheu aus der Seele kotzt und am Ende doch als bettelnder Verlierer zurückbleibt, "And I'd be nothing without you darling" in einem dieser weiten alles-auf-einmal-Würfe aus schnellen Drums, Gitarren und Stakkatopiano, gefolgt von "Please don't ever leave". Doch dann Bläser, Streicher die sich nicht unterkriegen lassen. Und gottverdammt ja, dieser Dudelsack (Dudelsack!(!!)), und alles schwingt sich auf, reißt Faust und Mittelfinger zum großen Finale empor das natürlich in einem schamlos jaulenden Gniedelsolo endet. Wohlwissend um die Konventionen des Rock und wie unmodern das alles ist, sich aber nicht mit dem postmodernen Trotzdem-1-2-3-4 begnügend, sondern Überlebensgroßes damit entfachend. Also ja ... das hat schon was für sich, finde ich.

[MP3] Titus Andronicus - Four Score And Seven Part 1 / Part 2
[Stream] Titus Andronicus - The Monitor

Wolf (Gast) - 31. Dez, 18:24

Working for a nuclear free city und Dënver sind schon jetzt sichere Kandidaten, käuflich erworben zu werden. Und in die Top8 habe ich noch gar nicht reingehört. Wieder einmal die interessanteste Bestenliste, die das Netz hergibt. Danke dafür.

uliuli - 1. Jan, 09:03

Freut mich, und vielen Dank

Working For A Nuclear Free City planen übrigens im Februar eine Europatour.
Pascal (Gast) - 2. Jan, 23:30

Titus

Uli, sehr schöner Text zu Titus Andronicus. Stimme zu 100% zu.

Aber auch schön, dass ich unten jetzt "duli" eingeben muss...

Nico Roicke (Gast) - 4. Jan, 22:16

kann mich wolf nur anschließen. werd mir nach der lektüre deiner liste ein paar sachen nochmal eingängiger anhören. these new puritans zum beispiel. los campesinos! sind zum beispiel komplett an mir vorbei gegangen.