66 aus 2011 (Teil 8)

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Platz 6
Sandro Perri - Impossible Spaces

Nahezu alle meine Favoriten dieses Jahr ziehen eine durchgängig kohärente Klangwelt auf, doch keine davon bot so einen schieren Hörgenuss wie die Sandro Perris. Nur zu passend, das er selbst in seinen Texten Räume und unendliche Weiten beschreibt, brilliert er doch eben im Arrangement seiner Musik in solchen. So schwebt seine Stimme dort mitten im Raum, flankiert von je einem Saitengespann links und rechts, mit anderen Instrumenten die zwischen diesen Extremen umherwandern, das Ganze irgendwo zwischen New Wave, Bitte Orca, Jazz, Kaputt, R&B, Where You Go I Got Too und Afro Pop, voller betörender Momente und Langzeitraumentwicklungen, die trotz der etwas komplexen Kompositionen im Nu erscheinen, als hätte man sie schon immer gekannt.

[Stream] Sandro Perri - Changes
[Albumstream] Sandro Perri - Impossible Spaces

Platz 5
Perfume - JPN

Es war nun wahrlich kein gutes Jahr für Japan - auch in popmusikalischer Hinsicht. Der neue panasiatische Darling ist Südkorea, das zum Rest der Welt noch spärlich seine Fühler ausstreckt, in den japanischen Charts aber längst Fuß gefasst hat. Da wirkt der Titel JPN ein wenig wie Kampfansage, doch abseits jeden Patriotismus hat Superproduzent Yasutaka Nakata in kreativer Hinsicht allen Grund zum Stolz. Endlich schaffte er es, seinen schizophrenen Output so auf seinen verschiedenen Projekten zu verteilen, dass alle eine klare Identität hatten - sein neuestes wurde dabei auch prompt zum Youtube-Hit. Weit darüber thront aber sein Meisterwerk mit dem Stimmentrio von Perfume, dessen zu digitaler Perfektion manipulierter Ultratwee schlichtweg irrsinnige Techno-Pop-Kompositionen anführt, wie man sie sonst eher bei Nischen-Elektronikern wie Rustie vorfindet. Bei allem dreidimensionalem Stimmenpingpong, parallel flitschenden Sechzehnteltonläufen (neben simultan langsamer taktierten Haupt-, Kontra-, Bass- etc. -Melodien), Songs in Haiku-Versmaßen, wüst synkopierten Stotterbreaks und noch viel mehr endet das maximalistische Heidewitzka aber irgendwie nicht in stimulierender Runruhe, sondern liefert dermaßen universale Euphorie, dass JPN sich in seiner ersten Verkaufswoche prompt sechsstellig absetzte. Ein Rustie kann von sowas nur träumen.

[Stream] Perfume - Laser Beam (Single Version)
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Platz 4
Gang Gang Dance - Eye Contact

“I can hear everything. It’s everything time.”, deklariert Taka Imamura das Credo dieses Albums und genüsslich langsam bricht der Damm, der Gang Gang Dances transzendente Soundfusion bis hierhin in ihrer eigenen Welt hielt. New agig helle Klangspritzer regnen über eine ebenso bunte Synthmelodie herab, die auf Drummer Jesse Lees Breakbeat ewig wiederholt werden könnte ohne an unendlicher Weite einzubüßen; Lizzi Bougatsos’ Stimme wirkt dabei wie in beschwörender Trance, mitgerissen von einer erleuchteten Energie als habe sie gerade ein göttliches Antlitz erblickt. War das nicht minder spektakuläre Saint Dymphna noch mitunter wie ein Mix, der von einem Grime-infizierten Track ins Shoegaze-Vakuum wechselte, ist hier alles Eins im massiven physischen und transzendierenden Hochglanzgroove.

[Albumstream] Gang Gang Dance - Eye Contact

Platz 3
Julia Holter - Tragedy

Ist es albern, Musik mit Vinylrauschen und -knacksen zu überlegen und sie dann auf Schallplatte zu veröffentlichen? Oder ist es andersrum eher sinnlos, sich solche Musik dann in "fehlerfreiem" Digitalformat anzuschaffen? Bislang tendiere ich bei Alben wie Julia Holters Tragedy doch zum Großscheibenmedium, nicht zuletzt, weil sie ohnehin nicht für unterwegs taugen, sondern in Ruhe am Stück gehört werden wollen. Weil sie Aufmerksamkeit erfordern, Aufgeschlossenheit und Neugierde darauf, was sich aus den anfangs spärlich gestreuten Klängen entwickelt. Holter breitet u.a. mit Piano, Drones, Samples, Perkussion und Spoken Melodies behutsam Kompositionen aus, die sich untereinander in Ansatz und Soundpalette meist völlig unterscheiden. Was sie letztendlich zu einer tief vereinnahmenden Hörnarrative macht, ist eine alles einende Atmosphäre, für die die leerräumigen Pausen, Stockungen und hörbar angehaltener Atem zwischen den Tönen nicht minder elementär sind. Und ja, in dieser glorreichen Irgendwas-Musik ist irgendwo in all den Tiefen, Höhen, Breiten, Verzerrungen, Entzerrungen, Echo, Komprimierung, Field Recordings auch ein Saxophon. Weil ... nuja, 2011 halt.

[Stream] Julia Holter - Goddess Eyes
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Platz 2
Destroyer - Kaputt

Was Deerhunter oder Katy Perry schon Ende 2010 andeuteten, ließ Dan Bejar zu Jahresbeginn so richtig wieder aufleben: Das Saxophon. Zwischen seinen beiden letzten EPs wählte er erfreulicherweise nicht den Drone seiner Hecker- und Loscil-Kollaboration als Soundbasis Kaputt, wobei sich schon dort zeigte, dass Bejar die kreative Führung seiner Musik auch mal anderen überlassen konnte. Zum Glück, denn während Bay Of Pigs den acht neuen Songs folgend trotz einender Softrock-Weichheit (und natürlich Bejars emotional verkatertem Jetsetter-Charakter) ein wenig angetackert wirkt, gibt die überwiegend instrumentale Komposition The Laziest River von Keyboarder Ted Dubois die ideal überleitende Klangreise. Welche doch so mehr ist als bloß funktional, aber Kaputt, auf dem es an manchen Tagen wie das absolute Highlight scheint, eben auch der atemberaubend smoothsanften Perfektion verdammt nahe bringt.

[Stream] Destroyer - Chinatown
[Albumstream] Destroyer - Kaputt

Platz 1
St. Vincent - Strange Mercy

Der Anfang war diesmal nicht leichter, aber simpler. Nachdem Annie Clark ihre bisherigen Alben überwiegend am Laptop konzipierte, entstanden die Songs für „Strange Mercy“ zunächst nur mit Stimme und Gitarre. Deren Klangform über das meisterliche dritte Album von St. Vincent wie Latex gedehnt, mit Schimmer bestäubt und über Reibeisen zerraspelt wird. Spätestens beim Blick auf die Plattenrückseite wird klar, dass irgendwo im Preisen dieser Platte auch der Name des dort plakettierten und für solcherlei Verfremdungen ebenso wie für die Drum-Arrangements (allein schon dieser verschleppte R&Beat im Eröffnungsstück) verantwortlichen Produzenten und kreativen Kollaborateurs John Congleton fallen muss. Doch abgesehen von Hysterical Strength , das als Unterbau praktisch einen Song vom letztem Paper-Chase-Album hat, ist dies natürlich unüberhörbar Annie Clarks Show, ob mit ihrem kraftvoll eigendynamischen Saitenspiel oder ihrer immer noch an Ausdrucksstärke zunehmenden Stimme. Stärke, die sie zum Ausloten tonaler Höhen und emotionaler Tiefen nutzt und inmitten all der klangkonträren Reibungen und auf Entladung wartenden Nervosität so Strange Mercy nie seinen Fokus auf ihre vereinahmenden, direkt vom Unterbewusstsein auf Tonträger transferierten Melodien verlieren lässt.

[Albumstream] St. Vincent - Strange Mercy