Warum Jahrescharts scheiße sind

Die ersten britischen und amerikanischen Musikmagazine haben bereits die Listen ihrer Lieblingsalben 2008 veröffentlicht, und wie jedes Jahr werden die Ergebnisse internetweit mit viel Unmut aufgenommen. So viele mittelmäßige bis überdurchschnittliche Platten, so viele Punkte in denen sich die Listen kaum ähneln, ist das wirklich alles was es dieses Jahr Hörenswertes gab? Bevor man beim Vorfinden von Vampire Weekend, Fleet Foxes, TV On The Radio und Bon Iver in jeder ähnlich öden Liste zu stöhnen und abwinken beginnt sollte man sich aber überlegen ob man die Natur der Jahrescharts nicht etwas falsch verstanden hat, das Endergebnis lässt nämlich seltener auf die vermeintlich unoriginellen Ersteller dieser Listen schließen als vielmehr auf deren Entstehungsweise.

Beispiel Vampire Weekend. Eine Band die fast jedem Autor eines (Pop-)Musikmagazins Ende 2008 bekannt sein dürfte, hat ein gutes, eingängiges Album gemacht das man sehr leicht mögen kann auch ohne jemals von Afrobeat gehört zu haben. Werden es viele die für die Jahrescharts nach ihrem Input gefragt werden als das beste Album des Jahres ansehen? Wohl kaum. Wird es in fast allen Jahrescharts prominent vertreten sein? Garantiert. Warum? Mathematik:

Nehmen wir mal ein fiktives Pop-Blatt (im Gegensatz zu Genre-spezialisierten Rap- oder Metal-Publikationen z.B.) an das seine 50 Autoren nach ihrer Meinung befragt, und zwar in Form einer Liste mit ihren 20 Topalben 2008. Ich würde davon ausgehen dass sich eine Konsensband wie Vampire Weekend in mindestens 25 dieser Listen vorfindet, sagen wir aber mal ganz vorsichtig nur mit einer durchschnittlichen Platzierung von 15. Jetzt kommt es auf die Methodik an mit der die einzelnen Kritikerlisten ausgewertet werden, hier mal ein einfaches, ungewichtetes Punktesystem bei dem Platz eins 20 Punkte erhält, Platz zwei 19, usw. bis Platz zwanzig 1 Punkt.

Das gibt 6 Punkte für Vampire Weekends durchschnittlichen Rang 15, bei 25 Stimmen also 150 Gesamtpunkte. Das sieht jetzt nicht nach soo viel aus wenn mn bedenkt dass maximal 1000 Punkte zu holen sind. Doch um dieses Ergebnis zu übertreffen muss ein Album nicht nur höhere Punktzahlen von den einzelnen Kritikern bekommen, es muss vor allem von genügend vielen überhaupt erst mal gehört worden sein. Nur wenige sind wie Vampire Weekend auf einem großen Label welches sie das ganze Jahr lang durch Internet, Magazine, Radio, TV, Tour, Werbe-, TV- und Filmsoundtracks u.a. bekannter gemacht hat.
Nehmen wir also mal hochoptimistisch an dass 10% der Autoren sich geschmacklich auf einen weniger bekannten Künstler und dessen Album einigen können und letzteres so überwältigend gut finden dass sie es alle auf Platz 1 ihrer Listen haben. Damit erhält das Album ganze 100 Punkte, gerade mal zwei Drittel von Vampire Weekend die mit einem Durchschnittsrang 15 in den Einzellisten von niemandem als ebenso gut erachtet werden aber einfach mehr Stimmen bekommen haben.

Das ist natürlich nur die simpelste Möglichkeit der Bewertung, man kann z.B. so gewichten dass bei selten aber hoch gelisteten Alben die Punktzahlen aufgewertet werden und umgekehrt, je mehr Einzellisten es gibt desto unwahrscheinlicher wird es aber in der Regel dass ein Album das keinen breiten Geschmack trifft es weit nach oben schafft. Die weit verbreitete (und in der Theorie gar nicht so schlechte) Grundidee aus vielen Listen einen Schnitt zu bilden ist dann auch der Grund warum es in derartigen Listen letztendlich kaum Überraschungen geben kann. Solche Jahrescharts sind keine klaren Ermittlungen der wie auch immer "besten" Alben in einem großen Kritikerkonsens, sie sind ein Kompromiss in den Popularität überproportional groß einfließt und zu oft diejenigen belohnt die am wenigsten anzuecken wissen (*hust* Fleet Foxes *hüstel*).

Deswegen sollte man, wenn man aus Jahrescharts lernen möchte was man vielleicht dieses Jahr noch an guten Dingen verpasst hat, anstatt sich über die große Liste zu ärgern lieber die Lieblingsalben der einzelnen Abstimmenden durchgehen (sofern sie denn verfügbar gemacht werden), dort gibt es so gut wie immer Erfreuliches zu entdecken. Und falls es an dieser Stelle noch nicht klar sein sollte: Die Überschrift war natürlich nicht ganz ernst gemeint, es gibt auch Magazine on- wie offline die die Sache anders aufziehen und nicht zuletzt mach ich mich ja bald selber wieder gerne an meine eigene Liste.