Juni 2014: Black Bananas, Gold-Bears, Kitten, Low Life, Mark Barrott, M.O.B., Phantogram, Rat Columns, White Hex, White Lung, Wussy, Young Marco



Black Bananas - Electric Brickwall
 

Wenn schon psychedelisch, dann auch rischtisch: Electric Brickwall ist nicht mit einer betaglichen Vintage-Nostalgiescheibe verwechselbar, denn wenn Jennifer Herrema sich aus dem Fenster lehnt, dann springt sie auch gleich noch kopfan hindurch. Wo andere Grasenthusiasten mich mit sporadischen Auswüchsen von knödeligem Funk und, Schockschwerenot, so etwas wie Sprechgesang nur anöden können, zieht Herrema sowas in einem derart gesamtschrägen Rahmen auf, dass es statt ausgestellter Exzentrizität glatt wieder als Normalität durchgeht. Dass dahinter noch mehr steckt, hört man am deutlichsten auf Eve's Child - da singt sie inmitten von Fuzz und wüst sprudelndem Neonblubbern "My best pal is a goner/ She can't come back if she wanna".

 


Gold-Bears - Dalliance
 

Das zweite Album von Jeremy Underwoods schrammelnder Indiepop-Band macht ohne Bremspedal exakt so weiter, wie ihr Debüt aufhörte: mit gefärbtem Schwarzweiß-Artwork und einem Song namens Yeah, Tonight. Gleichwohl verbirgt sich unter identischem Titel ein anderer Inhalt, doch die Güteklasse von Gold-Bears’ bravourösem Popgepolter ist wie auch im Folgenden erstaunlicherweise hoch geblieben. Ihr Gitarrenrauschen ist in einem etwas weniger abgedämpften Lo-Fi-Klang sogar noch lebhafter geworden, mit Bläsern, grellem Orgeln und Schellen reichhaltiger akzentuiert und in grenzchaotischen Momenten wie dem polternden Zerfall von Death With Drums so kontrolliert wie der pausenlose Übergang der tighten Meist-unter-drei-Minüter von einem stürmischen in einen sanften. [MEHR]

 


Kitten - Kitten
 

Dass Produktion im Pop genauso vom Wesen des Songs untrennbar sein kann wie bei konventionell experimenteller Musik, ließe sich gut an den Debüts von Sky Ferreira und Kitten demonstrieren. Beide bringen extrem rauschig-verzerrte Klangästhetiken an 80er-Wavepop, doch beide Alben könnten in dem konkreten Sound des anderen nie so gut funtionieren: Während Ferreiras oft nur rudimentärem Songwriting und brodelndem Arrangement der rohe, ungemasterte Sound atmosphärisch-intim bestens steht, ist alles auf Kitten von hellst leuchtender Glampolitur überzogen, weswegen damit einhergehend die Verzerrung noch kaputter und zerfaserter ist. Chloe Chaidez hat Songs wie G#, deren fein gesponnene Harmonien all dem Treiben um sie herum standhalten, und die ihres Bombasts würdig sind, wie wenn sich Cathedral taktelang über lauter wuchtendes Trommeln steigert und im Saxophonschrei gipfelt.

 


Low Life - Dogging
 

Das dritte Album in der Runde, die R.I.P Society im Juni auf einen Schlag losließ, ist zugleich das beste und am schwersten beschreibbare. Irgendwie PiL-postpunkig ziehen Low Life in Dream abstrus verschichtetes Gitarrenwetzen über kaum auszumachend dumpfem Beat auf, drücken in Speed Ball dann aber fluchend und vollbrünstig aufs Verzerrerpedal. Statt Machismo klingt im hübsch verquollenen M.E aber eine gewisse Wehmut durch, wie auch wenn Friends anklagt: "All my friends, they’re fucking scum. Jaded and bitter and faded and twisted". Dogging stinkt, von seinen dreckigen Tapeten bröckeln Schimmel und Schmutz und wahrscheinlich weiss es selbst nicht so recht, was es mit sich anfangen soll. Gehört zu werden, das verdient es aber.

 


Mark Barrott - Sketches From An Island
 

Seinen Höhepunkt wie auch sein Ende schien das von Anfang über ein Verwirr-, Versteck- und Pseudonymitätsspiel selbstmythisierte Label International Feel 2012 mit der gleichnamigen Compilation erreicht zu haben, nach der erst einmal nichts Weiteres in Sicht schien. Doch nach seiner öffentlichen Selbstenthüllung und dem Umzug von Uruguay nach Ibiza trieb Chef-Fühler Mark Barrott das Leichtigkeits-Revival nochmal mühelos im Alleingang auf die Spitze: Sketches From An Island ist eine grazile New-Age-Suite aus Balearic mit meditativer Zupfgitarre, weichem Disco-Boogie, Handperkussion in einem Meer aus Wellenrauschen und Vogelzwitschern und Synths, die zu bodenverhaftet im Tropenwald oder im Sonnenuntergang an der Küste schwelgen, um ins All abzuheben – Glückseligkeit währt hier am längsten.

 


M.O.B. - M.O.B.
 

Den Sechssaiter lassen M.O.B. aus Sydney – der Vollständigkeit halber: Al Haddock von Raw Prawn und Yuta Matsamura von Oily Boys – zwar nicht beiseite, doch gibt er nur metallen krächzende Einwürfe in ihre Höllenvisionen. Hilflos muss man mitanhören, wie sich das eröffnende Dante (F.T.P) unter massiv nachhallendem Maschinendrum-Stampfen und bassig brodelnder Synthoszillation ausbreitet, dass man sich in die Rolle eines Lovecraft-Protagonisten versetzt sieht. Wie in panischer Flucht vor dem Unheil, das hinter ihm rumort, wirft City Circle grellhohe Töne nach vorne, fast schon verständlich sind hier die barschen Vocal-Einwürfe, die anderswo zum röhrenden Phantom verzerrt werden. Genau erfassen können muss man sie nicht, denn M.O.B. beschreiben das Grauen nicht, sie evozieren es in bemessen langsamem Tempo flüssig vorantreibend, so dass es wie in Endtimes keinen Unterschied macht, wenn keine Stimme zu Hören ist: Deren Launigkeit drückt bereits die Musik aus.

 


Phantogram - Voices
 

"Mit seinem zweiten Werk ist dem Duo mindestens ein halbes erstklassiges Electropop-Album gelungen" schrieb ich da zunächst, aber kaum ein anderes Album hat sich seitdem so in meiner Gunst erhöht wie dieses. Immer wieder gab es da diese Fragmente, die sich schon nach einem Hören im Hirn festgesetzt hatten um dann nach Wochen des Schlummerns wieder aufzutauchen, bis ich dann irgendwann feststellte, dass immer wieder ein anderes davon zu diesem Album zurückführte. Der Kauf war so allein schon deswegen imperativ, damit ich im Zweifelsfall immer erstmal zu Voices greifen konnte, wenn sich wieder etwas auftat, doch mittlerweile bin ich auch mit dem Album als Ganzem so angetan, dass ich mich lieber ganz durchfresse als einzelne Krumen rauszupicken.

 


Rat Columns - Leaf
 

Das zweite Rat-Columns-Album steht fast schon unpassend im stets etwas angerauten Labelkatalog von R.I.P. Society da: Unter erhellendem Synth-Schein haben die Songs den rhythmischen Drive, das fetzig-verzahnte Janglegitarren-Doppel und vor allem die höchst eingängigen Melodien, um auch als recht amerikanisches Produkt durchzugehen – bis dann diese blassen Vocals kraftlos einsetzen. Auch ohne wattigen Hallsound wird ein Aufbäumen wie in Pink Mist so wattig weich, als als hätte wer aus die Luft rausgelassen, wenn die Songs ihren Gesang mitschleppen müssen, der mit seinem Noncharisma glatt wieder charismatisch wird – und traumhaft zarte Instrumentalpassagen wie in Sixteen damit bestens komplementiert.

 


White Hex - Gold Nights
 

Das Goth-Präfix könnten White Hex für den Synthpop ihres zweiten Albums fast schon ablegen. Wirkte ihr 2012er Debüt noch, als hätte Jimi Kritzler die Musik seiner Hauptband Slug Guts reduziert und den letzten Pfiff vergessen, findet das Melbourner Duo mit „Gold Nights“ zu imposantem Eigencharakter. Keine Spur von Schmutz, Splittern und Körnern, „Paradise“ zieht elegant auf wie eine hell erleuchtete, kühle Kristallbaute, die als Tragnetz für Tara Greens Vocals jeden Synthton schillernd amplifiziert. Ihre Stimme verhält sich jedoch emotional derart kontrolliert, dass der Optimismus ihrer Worte über einen Neuanfang deutlich, aber nicht überzogen euphorisch ist. [MEHR]

 


White Lung - Deep Fantasy
 

Mit Album Nr. 3 sind White Lung zwar auf eines der größten Indie-Labels Europas aufgestiegen (wenn nicht gar das größte), doch abgesehen vom etwas massivereren Sound ist eigentlich alles auf Deep Fantasy beim Alten geblieben. Heißt: White Lung praktizieren Punk immer noch als wuchtige Dampfwalze, die zu überrollen sucht was sich ihr in den Weg stellt, aber dabei einiges an Abdrücken hinterlässt. Mish Way wütet und grollt so klar verständlich wie das durchaus gleichermaßen markante Gitarrensirren Kenneth Williams, was ihnen diesseits der 3-Minuten-Marke reichlich Gelegenheiten gibt, sich im Gedächtnis einzuritzen.

 


Wussy - Attica!
 

Kaum zu glauben, aber nach mehr als zehn Bandjahren ist Wussys fünftes reguläres Album das erste, das seinen Weg endlich auch mal nach Europa gefunden hat. Der Zeitpunkt könnte kaum besser sein: Auf Attica! führt das Quintett aus Cincinnati seine bildstarken Erzählungen mit facettenreichem Spiel zu Songs zwischen Sommertraum und totaler Desillusion zusammen. Schon der erste und letzte Song des Albums sind zwei der schönsten Zurückblicker des Jahres und könnten dabei kaum unterschiedlichere Gefühle transportieren. Während Teenage Wasteland das erste jugendliche Von-Rockmusik-mitgerissen-Werden euphorisch zelebriert, ist Beautiful selbst nicht minder mitreißend, doch statt eines "When the kick of the drum lined up with the beat of your heart" wiederholen Lisa Walker und Chuck Cleaver im Finale inmitten abgebrannter Ruinen "20 years ago I was more beautiful than I am today". [MEHR]

 


Young Marco - Biology
 

Biology ist das Ergebnis einer Detailarbeit, im Großen wie im Kleinen. Der Amsterdamer Produzent Marco Sterk stellt seinem Debütalbum die luxuriöse Schönheit einer schimmernden Klangpalette in wohlbemessener Intensität voran: Glocken und gamelanartig anmutende Perkussionsmelodien umranken kosmische Analogsynth-Bepinselung über feinfühligem Houseantrieb, wobei Biology Theme nicht mal einen Beat braucht, um auf den unfassbar weiten Ozean loszusegeln. [MEHR]

 

Mai 2014: Ben Frost, Especia, Fatima, Full Ugly, Hundred Waters, Sharon Van Etten



Ben Frost - A U R O R A
 

Die leisesten Momente kann es durchaus auf einem der lautesten Alben des Jahres geben - wenn es denn so einen luxuriös großen Dynamikumfang besitzt wie dieses. Ich muss bei A U R O R A die Anlage schon ordentlich hochdrehen, bevor überhaupt die weniger auffälligen Sounds des Albums voll gerundet wahrnehmbar werden, doch Frost ist ein Meister des Sounddesigns und so werden bei entsprechender Lautstärke auch die massiven gewaltigen Lärmeruptionen nicht unerträglich. Da gibt's dann erst die volle Wirkung des Wummerbass-Herzschlags, klappernder Stockperkussionen, Sirren und Glockenläuten, Blast-Beats und einer Neonmelodie inmitten der verfiepten Kakophonie. Nicht dass das eine Überhand nimmt macht die titanische Dimension dieses Albums aus, sondern dass Laut und Leise einander in Wechselwirkung zu mehr Tiefe verhelfen.

 


Especia - Gusto
 

Den Zickzack der kulturellen Aneignung von Especias Vaporwave-Pop muss man zum Glück gar nicht erst zu durchblicken versuchen, um reichlich Gefallen an Gusto zu finden: Deutlich über Karaoke-Niveau, doch mehr auf Lebhaftigkeit denn Perfektion ausgelegt sind die Vocals der umso glatter-geschmeidigeren Disco/Funk/Jazz/Soul-Hybride, die ohne Scheu vor professionell furiosen Saxophon-Soli und kantigen Synth-Extremitäten übersommerlich dahingrooven. Hauptsache, dass dabei auch die Melodien abwechselnd cool und uncool sind. [MEHR]

 


Fatima - Yellow Memories
 

Wie so manches ist mir bei der Musikauffassung hierzulande das Verständnis von R&B fremd, das alles daran zu setzen scheint, nur die milchbrotigsten Auswüchse als hörenswert zu präsentieren. Tanzbar darf es nicht sein, zu stimmkräftig und poppig irgendwie auch nicht und wenn's dann mal besonders subtil und fein wird, ordnet man's lieber und Soul oder noch woanders ab. So tourten Fatima oder Bilal hierzulande vor allem durch Jazzclubs und -festivals, womit sie nicht so selbstverständlich als Teil des großen bunten R&B-Spektrums wahrgenommen werden wie in den USA. Dabei besitzt schon allein das Debüt Yellow Memories der Schwedin eine bemerkenswerte Klangspannweite, die vom satt orchestral instrumentierten Eröffnungsstück bis in Kollaborationen mit Londoner Untergrund-Beatschauflern geht und dabei immer im mannigfaltigen Groove bleibt. [MEHR]

 


Full Ugly - Spent The Afternoon
 

Full Ugly lassen sich mehr Zeit als die meisten anderen. Ihr Debüt nahm die Band um Nathan Burgess bereits 2011 auf, seitdem zog Gitarrist Michael Caterer nach Brooklyn, veröffentlichte dort als Mitglied von Scott & Charlene’s Wedding ein Album und debütierte auch mit seinem eigenen Bandprojekt Shorts, noch bevor Spent The Afternoon das Licht der Welt erblickte. Es passt aber auch zu einem Album, das sich in Songs wie Mt Barker, Hanging Around oder No Plans mit emotionalem Bleigewicht am Bein dahinschleppt. Clevererweise haben sich die Melbourner die flotteren – wobei “flott” wirklich ein relativer Begriff ist – Songs für die zweite Hälfte des Albums aufgehoben, so dass ihm selbst bei den gemütlichsten Hooks nie ganz die Puste ausgeht. Ein Hoch auf das Flanieren!

 


Hundred Waters - The Moon Rang Like A Bell
 

Wenig ist doofer als wenn sich Jahrzehnte nach Kraftwerk immer noch einer Rhetorik von wegen "zeitgemäß dank Elektronik" um Bands bemüht wird, die dann nichts Neues oder vor allem Eigenes machen. Hundred Waters sind eine nach dem Kriterium wohl irgendwie moderne Band, die aber auf ihrem zweiten Album auch etwas aus ihren Möglichkeiten macht: Völlig eigen wirkt mitunter schon die Soundkonstellation, die sie erzeugen, aber nicht um der Neuheit willen sondern um ihre spezielle Form von Leichtigkeit zu vermitteln. Über Distanzen, Echo, Texturen, Formen und Farben evozieren sie diese weichen und doch fundierten Stimmungen, voller perlender Melodien und rhythmischer Komplexitäten und zielbewusster Dynamiken können ihre Songs gänzlich sublim bleiben oder ganz unerwartet himmelhochjauchzende Prächtigkeit offenbaren. In der Regel aber ist ihr Traumpop einer (und darum auch schwerer zu greifender), der sich mehr über Zustände als über Songmomente oder Entwicklungen mitteilt.

 


Sharon Van Etten - Are We There
 

Schockschwerenot, ich habe mir ein Folk(iges)-Album gekauft? Nuja, auch wenn ich des öfteren über alte Bärte mit Gitarre witzele ist es nicht so, als hätte ich prinzipiell was gegen bestimmte Ausbildungen der songlichen Erzählung, nur gibt es halt extremst selten ein Album, das ich lieber hören würde als Musik anderer Machart. Are We There ist so in mindestens einer Hinsicht ein Ausnahmealbum. Unverblümt hängen die Worte an einer Stimme, die dafür die Tragkraft besitzt und auch dafür, um mit dem gleichermaßen emotionalen Gewicht der Melodien und Arrangements an einem Strang zu ziehen, bis beide in ihrer Wirkung untrennbar werden. Sicher können diese Songs auch in roher Akustikform weiter fein sein, aber Sharon Van Etten bringt alles so denkwürdig zusammen, dass ich dafür einfach keinen Bedarf habe.

April 2014: Brody Dalle, Golden Retriever, Ought



Brody Dalle - Diploid Love
 

Auch wenn die präzise thrashende Drum Machine, über der Brody Dalle die Songs ihres Solodebüts entwarf, für die Studioaufnahmen mitunter von Menschenhänden ersetzt wurde, ist Diploid Love von klarer Strichführung geprägt. Oft sind die einzelnen Saitenanschläge zu hören, egal wie breit sich der Nachhall vor allem der Lead ausflänzt, die (meist ebenfalls von Dalle eingespielten) Rhythmusgitarren und Bässe sind so klar voneinander separiert, dass sie ebensowenig zur übermischten Rocksuppe verschmelzen wie die frontal positionierten Vocals oder gelegentlich aufflammenden Blechbläser. [MEHR]

 


Golden Retriever - Seer
 

Wenn verschiedene Arten von Drone-Sound kategorisiert werden, dann wohl vor allem in analog oder digital, und selbst das wird man kaum als gängige Karteireiter in Plattenläden vorfinden. Was oszilliert, das oszilliert, woher ist oft weniger wichtig als wohin. Ohnehin sind die Vermischungsoptionen mannigfaltig, eine analoge Klangquelle kann man in einen Hardware-Sequencer leiten oder auch per Software live oder nach freiem Gedünken weiterverarbeiten. Einen etwas anderen Mischsound produziert das Duo Golden Retriever, der seinen starken Eigencharakter aus Jonathan Sielaffs Bassklarinette im Mit- und Gegenwirken zum Analog-Synth von Matt Carlson bezieht. Allein das langgezogene Bläserseufzen in Flight Song inmitten bassiger und bassloser Synthplinker wäre schon phänomenal hypnotisch genug, aber dann sickert ein zauberhaftes Melodiespiel Carlsons durch die Atmosphäre in die Weite des Kosmos, der um diese Hauptattraktion des Albums herum in immer wieder anderen Ansätzen erforscht wird.

 


Ought - More Than Any Other Day
 

Großes Kratzen und was dahinter. So wunderbar staksige und angeschmirgelte Gitarren wie die von Ought gab es lange keine mehr, ohne dass es gleich in ein Retrofest ausartete. Wenn sie nicht ausgerechnet aus Montreal kämen, hätten sie damit genausogut auf Dischord gepasst, so jedenfalls hängt Matt Mays Keyboard immer wieder eine spröde Wärme um die nervöse Stimme von Tim Beeler und zieht sie weit vom derzeit durchaus frugalen Feld der Posthardcore/Postpunk-Mischbemühungen. Und so nehmen sich Ought denn auch in denkwürdiger Weise vernachlässigten Songformaten wie dem Immer-schneller-Werder an, wenn Today More Than Any Other Day erst nichtig, dann behäbig schlenkernd beginnt und erst am Mittelpunkt richtig loslegt, aufgeputscht von Beelers nonstop Verbalschwall - auch so eine Technik, die nur Bands einsetzen können, die nicht auf eine Klanglandschaft mit schönem Ausblick setzen.

März 2014: The Caution Children, Johnny Foreigner, Kevin Gates, La Dispute, Linda Perhacs, Magic Touch, Manchester Orchestra, Perfect Pussy, Psalm Zero, Sports, Tony Molina, White Hinterland, The War On Drugs



The Caution Children - Safe Crusades / No Judgements / And Baby
 

Na bei dieser 6-Wochen-Frequenz schaff ich den Dezember-2014-Eintrag ja locker vor Ende nächsten Jahres! Apropos Frequenz (das war eine gute Überleitung), den hochfrequenten Tremolo-Anschlag nutzen The Caution Children aus Florida für ihren wolkig texturierten Screamo, der sich fast schon zu formelhaft in druckvollen Wellen ergießt und in ambient-sanfte Passagen abebbt. Neben den fast schon Envy-hysterischen Shouts und gelungenen Melodien wurden diese aber überzeugend ungestelzt von Produzent Jack Shirley eingefangen, der sowohl für Sunbather verantwortlich zeichnete wie auch für viele Platten des dreampop-tendenziellen New Yorker Indierock-Labels Captured Tracks. Passend dazu: Das für dieses Genre ungewöhnlich bunt-stylische Artwork.

 


Johnny Foreigner - You Can Do Better
 

Egal was sie machen, ob sie nun zu dritt, zu viert oder vielleicht irgendwann mal zu zehnt sind, Johnny Foreigner haben einen unverkennbaren Stil und Klang, den sie wohl auch dann noch behalten würden, wenn sie ein Album Song für Song zwischen Dave Fridmann und Steve Albini wechselnd aufnähmen. Ihr Sound ist gewissermaßen mit amerikanischem Emo/Pop-Punk verwandt, aber auf eine sehr eigene Art dicht und überdreht. Ob sie diese Fähigkeit zum Sich-selbst-Überschlagen nun voll ausspielen oder sich selbst aufs Wesentlichste runterbrechen, läuft's wie die Vergangenheit zeigte dann vor allem darauf hinaus, ob sie eine gute Songidee haben. Wenn nicht, kann das ebenso in ziellosem Wüten wie übermäßiger Monotonie enden, aber auf ihrem vierten Album passiert eben das nicht. Inspiriert und mit dem gesammelten Können, diese Inspiration auszureizen, reihen sie sich neben Sky Larkin und Slow Club in die Gruppe exzellenter britischer Bands ein, die in der dortigen Wüstendimension zwischen "noch nie ein richtig großer Hype" und "nie gänzlich unbekannt" zu einem Zeitpunkt ignoriert werden, wo sie endlich ihre stärksten Werke schaffen.

 


Kevin Gates - By Any Means
 

Sagenhafter Flow, sagenhafte Stimme und ein Gefühl dafür, sie bei jeder Gelegenheit anders angepasst einzusetzen: Wenn Kevin Gates das ungemütliche Treiben auf der Straße beobachtet, wird er konzentriert und eindringlich, wenn er sein Ego auf ner Party auslebt sprung- und lebhaft und wenn er sich selbst verwundbar oder konfessionell zeigen will, so bricht und knackst die Heiserkeit in seinem Tonfall mit gekonnter Effektivität. Vor allem aber schafft er es, zwischen den unterschiedlichen Ansätzen auch über die einstündige Dauer seines dritten Albums nicht nur stimmig zu bleiben, sondern einen auch ungemein mitreißend bei der Stange zu halten. Wenn ich einen Rapper nennen müsste, dem ich auch weiterhin zwei starke Alben pro Jahr zutrauen würde, dann wär das Gates.

 


La Dispute - Rooms Of The House
 

Wer das letzte Album von La Dispute zu leicht zugänglich und zu lebenslustig fand, durfte sich im März freuen. Rooms Of The House ist tatsächlich noch spröder, noch grauer verhangen, noch weiter entfernt von Post-Hardcore mit Festfaktor. Wenn Songs wie For Mayor In Splitsville die Strukturen vertrauter Rock-Hymnik mit Moll-Verschiebung und Jordan Dreyers speiender Bauchstimme in La Disputes Welt ziehen, so ist es zunächst irritierend, bis man sich mit etwas oder auch einiger Geduld in Rooms Of The House eingelebt hat. Danach: Langfristig packend und verstörend.

 


Linda Perhacs - The Soul Of All Natural Things
 

Mehr als 40 Jahre nach dem zwischendurch wiederentdeckten und wiederveröffentlichten Parallelograms ist das Klangbild von Perhacs’ trügerisch leicht dahingleitenden Songs in sanft raunende Synths gebettet astraler geworden, mitunter sogar von Perkussion durchzogen, die jedoch nicht von Perhacs’ fein gestrickten Melodieläufen ablenkt, höchstens mal in Intensity titelgemäß einen verdichteten Taumel bewirken. Offenherzige Musik von oberflächlicher Schönheit, die mit zahllosen Nuancen aber auch langfristige Faszination erwirkt.

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Magic Touch - Palermo House Gang
 

Ein übermäßig breitgetretener Hype wird mal wieder dann fruchtbar, wenn die meisten schon längst weiter gezogen sind. 100% Silk begann als das Dance-Seitenlabel von Not Not Fun und da sich bekannte Gesichter aus dem Umkreis der Labelköpfe dort neben Neuentdeckungen und dem allgemeinen Exodus alter Noiseheads in die Housewelt ausbreiteten, stellte sich bald der gleiche hohe Ausstoß bei laxer Qualitätskontrolle wie schon bei Not Not Fun ein. Für eine rundum gelungene Veröffentlichung schon zu medialen Hochzeiten des Hipster-House-Hypes hatte aber Magic Touch alias Damon Palermo alias Mr. Achtarm bei Mi Ami (als Mi Ami noch Drums benutzten) gesorgt, was er mit seinem Debütalbum fortsetzt. Die perkussive Wirkung des Pianoanschlags flechtet Palermo ebenso effektiv in seine trügerisch komplexen, aber letztendlich körperanimierenden Beatmuster ein wie die Vocals seiner Gäste aus dem musikalischen Freundeskreis, die eben immer mittendrin im Geschehen sind.

 


Manchester Orchestra - Cope
 

Go big or go home. Oder: Wenn man etwas machen will, dann soll man's auch konsequent aufziehen. Manch eine Band mit Gitarre in der Hand schielt noch nach der Arena, nach dem Rockalbum als buchstäblich großes Ding, doch irgendwo kommt dann atmosphärisches Gesiffel dazwischen, coole Ableton-Experimente, dröger Goth-Pathos oder die zwei Songs, die auch dieses ganz aktuelle Thema Disco aufgreifen. Fuck that, Manchester Orchestra haben sich für Cope mit einem Lastwagen voll Effektgeräten und mehr Gitarren, als sie tatsächlich live spielen können eingedeckt und Songs auf Tonträger gebannt, die groß, größer und größerst klingen. Nicht weniger, dafür noch ein bisschen mehr. Wer das zu laut findet, kann ja in den Keller gehen.

 


Perfect Pussy - Say Yes To Love
 

Nach dem Ende von Shoppers hatte ich alle paar Monate nach Meredith Graves gegoogelt, immer in der Hoffnung, dass sie ihre kreativen Energien nicht nur in Vintage-Kleidung, sondern auch wieder in Musik stecken würde. Und tatsächlich, mit der etwas anderen Banddynamik, aber dem wenig anders klingenden und wirkenden Sound scheinen Perfect Pussy auf eine etwas längerfristig stabile Zukunft ausgerichtet. Das innerhalb einer Woche entstandene Debütalbum des Quintetts denkt noch nicht alle seine Ansätze zu Ende und steht insgesamt ein Stück hinter der EP zurück, hat aber genug inhaltliche Überzeugung, selbst wenn man um sie auszumachen die Lyrics gedruckt sehen muss. [MEHR]

 


Psalm Zero - The Drain
 

Charlie Looker war bislang vor allem für sein Werk mit Extra Life bekannt, doch seine markant gequetscht-belegte Stimme überträgt sich erstaunlich passend auf die noch weniger Ruhepole bietende Industrial-Wucht, die er mit Andrew Hock (Castevet) als Psalm Zero heraufbeschwört. Die mechanische Stoik der kräftig wetzenden Drum Machine, neben der die beiden mit Bass, Gitarre und gelegentlich Synthesizer agieren, intensiviert nur die Fabrikhallen-Ästhetik von „The Drain“. Sein Sound hallt so weit und ohne atmosphärische Texturen zugleich so kalt nach, dass aber auch klar ist, dass Psalm Zero in dieser Halle ganz alleine sind mit sich und ihrer Fleischlichkeit. Looker und mit kürzeren, heiseren Schreiausstößen auch Hock schneiden sich nicht nur in ihren Texten voller Splitter und Brandwunden ins eigene Fleisch, ihre Songs sind wie das Zerrbild einer glückseligen Welt. Psalm Zeros Mittel ist jedoch nicht viszerale Intensität und Aggression. [MEHR]

 


Sport - Bon Voyage
 

Die indierockige Post-Hardcore-Band aus Lyon führt manches ad absurdum. Vor allem die strenge Einhaltung eines Konzeptes: Der Name der Band ist Sport, ihre Songs tragen allesamt den Namen von SportlerInnen oder im Entfernten wettbewerblich orientierten Personen (Charles Lindbergh), doch inhaltlich ist von einem kompetitiven Ernst wenig zu spüren. Thematisch orientiert sich Bon Voyage dafür am Albumtitel, sehnt sich in Songs voller kleiner Twinkle-Gitarrenschnörkel nach der Ferne, schwärmt davon oder flüchtet nur so dahin, weil zu Hause weniger als nichts ist. Passenderweise untergraben Sport auch die Idee des Labels als exklusive, feste Heimat: Die 23 Labels aus fast genauso vielen Ländern, auf denen das Album erschienen ist, sind mehr wie freundliche Herbergen auf einer großen Rundreise um die Welt als eine feste Residenz fürs Leben.

 


Tony Molina - Dissed And Dismissed
 

Da dachte ich eigentlich letztes Jahr, ich hätte mir noch rechtzeitig ein Exemplar von Tony Molinas ultrakompaktem Debüt gesichtert, doch irgendwo zwischen der US-Westküste und hier ist das Paket wohl von tollwütigen Indierock-Geiern abgegriffen worden. Zum Glück aber erweckte er damit das Interesse und die Aufmerksamkeit von Slumberland Records, das die LP auch gleich international neu rausbrachte - zeitlos sind die zwölf goldigen Songs darauf ohnehin. [MEHR]

 


White Hinterland - Baby
 

Casey Dienel hat eine soulige Stimme. Eine formidable Songwriterin ist sie auch, multiinstrumental versiert obendrein, doch ausschlaggebend für Baby ist, dass sie all das in Eigenproduktion nicht bloß im dokumentarischen Sinne aufnimmt, sondern wechselwirkend synthetisiert. Hier bereitet sie dem Bassgroove einen satten Echoraum, dort kippt die Miniorgel zum Songklimax in Lo-Fi-Übersteuerung, bis sich ein Kabal aus verflochtenen Gesangsträngen glasklar jubilierend erhebt oder das Kristallpiano auf rückwärts abgespielte Samples mit überlappenden Oszillationsflächen antwortet. Der Aggregatzustand des Klanges ist hier mit der selben Wichtigkeit belegt wie die Note, die er trifft und das Instrument, von dem er ausgeht. Das ist sicher auch bei anderer, wenn nicht sogar aller Musik so, aber wenn Pop so kunstvoll arrangiert ist wie dieser, erscheint es geradezu offensichtlich.

 


The War On Drugs - Lost In The Dream
 

Hand aufs Herz, ich war nie der größte Fan der Band. Adam Granduciel mochte ich vor allem dann, wenn er einen fundierten, mit motorischer Stoik vorantuckernden Beat mit gezielten Traumriff-Harmonien ritt, die so gefühlt in alle Ewigkeit weiterfahren konnten. Nirgendwo gelang ihm das von Experimentalabfall entlastet so gut wie in Baby Missiles, bis ... nun ja, bis er aus eben diesem Rezept mal eben ein ganzes Album strickte. Das ist Springsteen, Young, Petty, das ist Softrock, das ist nicht revolutionär und im Kern mehrmals der gleiche Song und all dass ist schnurzpiepegal, weil Granduciel dieses eine Ding, das er so gut beherrscht, ein ums andere Mal einfach grandios durchzieht, bis er selbst auch in seiner eigenen Musik aufgeht.